Was fördert Babys Immunsystem? Dr. med. Mike Poßner im Interview
Neue Erkenntnisse in der Muttermilch-Forschung
Was viele nicht wissen: Schon bei der Geburt hat ein Säugling einen natürlichen Schutz, auch Nestschutz genannt, durch die Immunstoffe, die er bereits in Mamas Bauch aufgenommen hat. Wir sprachen mit Dr. med. Mike Poßner über Babys‘ Immunsystem und über einen wichtigen Durchbruch in der Muttermilch-Forschung - die Humanen Milch-Oligosaccharide (kurz: HMO).
BEBA Family: Herr Dr. Poßner, für eine gesunde Entwicklung ist ein Immunsystem wichtig. Kommt ein Baby denn schon mit einem funktionierenden Abwehrsystem auf die Welt?
Dr. med. Mike Poßner: Der Nestschutz bildet die Basis für ein funktionierendes Immunsystem. Bei einer vaginalen Geburt erhält das Abwehrsystem eines Babys über die Flora der Mutter während der Geburt weitere Unterstützung. Ab dann baut das Baby selbst seinen Schutz weiter auf und trainiert durch den Kontakt mit Bakterien und allen möglichen Stoffen aus der Umwelt seine Abwehrkräfte. So besiedeln bald Hunderte verschiedener Kleinstlebewesen wie nützliche Bifidusbakterien, dazu Viren, Hefen und Pilze den Darm. Diese Gemeinschaft wird oft „Darmflora“ genannt, heute spricht man auch vom „Mikrobiom“.
BEBA Family: Welche Rolle spielt dieses Mikrobiom für die Entwicklung des Immunsystems?
Dr. med. Mike Poßner: Für den weiteren Aufbau des Immunsystems übernimmt der Darm eine wichtige Funktion. Die genauen Mechanismen sind bei weitem noch nicht erforscht, aber die Wissenschaft erkennt immer mehr, dass unsere Darmbesiedelung einen wichtigen Einfluss auf die langfristige Gesundheit haben kann – also beispielsweise, ob wir später Übergewicht entwickeln, ob wir Depressionen, Autoimmunerkrankungen oder Krebs bekommen können oder ob wir ein langes und gesundes Leben führen können.
BEBA Family: Welche Inhaltsstoffe der Muttermilch sind für das Immunsystem denn besonders wichtig? Hierzu scheint es neue Erkenntnisse zu geben …
Dr. med. Mike Poßner: Mit der Muttermilch erhält ein Säugling nicht nur alle wichtigen Nährstoffe in idealer Zusammensetzung, so dass sich Muskeln, Organe und Gehirn optimal entwickeln, die Muttermilch enthält auch jede Menge Bestandteile, die für den Aufbau des Immunsystems wesentlich sind. Immer eindeutiger erkennen Wissenschaftler, dass hier bestimmte Kohlenhydratmoleküle eine große Bedeutung haben: Die HMO, auch Humane Milch-Oligosaccharide genannt, sind unverdauliche Stoffe (Zucker) mit besonderen Eigenschaften, die in der Natur ausschließlich in menschlicher Muttermilch vorkommen. Bisher sind rund 200 unterschiedliche HMOs bekannt. HMO machen nach Milchzucker und Fetten den drittgrößten festen Bestandteil der Muttermilch aus. Sie spielen also eine entscheidende Rolle!
BEBA Family: Was können diese HMO genau?
Dr. med. Mike Poßner: Mit der Muttermilch gelangen die HMO in den Darm. Sie liefern dem Baby keine Energie und können nicht verdaut werden. Forscher haben daher lange gegrübelt, wozu sie dienen, wenn der Säugling sie nicht nutzen kann. Inzwischen weiß man, dass sie viele Funktionen für eine gesunde Immunabwehr haben: Einesteils dienen sie als „Futter“ für die nützlichen Darmbakterien, so dass diese sich vermehren und im Darm etablieren können. Potentiell krankmachende Keime dagegen binden sie an sich und sorgen dafür, dass diese ausgeschieden werden. Außerdem stärken sie die Darmbarriere und verhindern damit, dass potentiell schädliche Stoffe vom Darm in die Blutbahn gelangen.
BEBA Family: Haben also Babys, die nicht gestillt werden, schlechtere Chancen für eine gute Immunabwehr und damit langfristige Gesundheit?
Dr. med. Mike Poßner: Forscher vermuten tatsächlich, dass die HMO für die bessere Immunabwehr gestillter Babys sehr bedeutend sind. Und Muttermilch ist natürlich unvergleichlich und einfach die beste Ernährung für jedes Baby. Bisher machten die Humanen Milch-Oligosaccharide – die übrigens so heißen, weil sie eben fast ausschließlich nur in der humanen Muttermilch vorkommen – tatsächlich den größten Unterschied in der Zusammensetzung von Muttermilch und Folgenahrung aus.
BEBA Family: Wie ist die Entwicklung in der Forschung?
Dr. med. Mike Poßner: Die gute Nachricht für Babys, die nicht oder zum Teil gestillt werden: In jüngster Zeit hat die Forschung große Fortschritte gemacht. 200 verschiedene Arten HMO wurden bisher in der Muttermilch identifiziert. Nun ist es gelungen, bis zu 5 HMO* (2´FL; LNnT, 3´SL, 6´SL, DFL) so nachzubauen, dass sie in ihrer Struktur identisch zu den HMO der Muttermilch sind. Diese HMO* können nun Folgenahrungen zugegeben werden. Damit ist der Weg frei geworden für eine Generation von Folgenahrungen, die sicher und gut verträglich sind und eine Besiedelung im Darm fördern, die der gestillter Babys ähnelt. Erste Studien mit der neuen Folgenahrung mit HMO* sind diesbezüglich sehr erfolgversprechend!1
BEBA Family: Ist Säuglingsnahrung mit Zugabe von HMO* genauso gut wie Muttermilch?
Dr. med. Mike Poßner: Nein. Auch wenn wir stets alles dafür geben, möglichst nah an unser großes Vorbild Muttermilch heranzukommen, um Babys, die nicht gestillt werden können, eine bestmögliche Ernährung und damit einen guten, gesunden Start in Leben zu ermöglichen, ist Säuglingsnahrung mit HMO* nicht vergleichbar zur Muttermilch. Wann immer es dir möglich ist zu Stillen, solltest du dies tun, da Stillen immer das Beste für dein Baby ist!
Vielen Dank für das Gespräch.
* Nicht aus Muttermilch gewonnen
Quellen:
1 Puccio et al. JPGN 2017: Effects of Infant Formula With Human Milk Oligosaccharides on Growth and Morbidity: A Randomized Multicenter Trial.
HMO: Sie machen Muttermilch so besonders
Ein neuer Meilenstein der Muttermilchforschung.
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